Wie überall in der Literatur gibt es in «Nathan der Weise» Haupt- und Nebencharaktere. Währenddem Nathan, Recha, Saladin und der Tempelherr mit der Aufklärung beschäftigt sind, bleiben die anderen hinter der Bühne – zwar nicht sichtbar, aber am Helfen…
Im Buch liegt der Fokus auf der Aufklärung. Nathan spielt die Rolle des Aufklärers in der Geschichte und beeinflusst die Meinungen und Vorurteile, die die Hauptcharaktere am Anfang haben. Die Geschichte weist nicht viele Charaktere auf, mit dem Fokus auf Recha, den Tempelherrn und Saladin, und ihre lineare Handlung. Diese werden im Verlauf der Geschichte von Nathan aufgeklärt. Jedoch werden die Nebenfiguren nicht miteinbezogen, und diese bleiben unverändert am Ende. Wie wir im Unterricht besprochen haben, ist der Zweck dieses Buchs, die Meinung von Lessing über Religion zu teilen und dadurch den Leser aufzuklären, wie Nathan die Hauptfiguren im Buch aufklärt. Diese Botschaft wird durch die drei Aufklärungsgespräche mitgeteilt, die im Buch vorkommen. Wenn die Hauptfiguren «genug» sind, um diese Botschaft zu tragen, warum gibt es überhaupt Nebencharaktere in der Geschichte? Nebenfiguren sind wichtig für die Handlung, indem sie wichtige Handlungspunkte ausführen. Ohne den Klosterbruder wäre Recha gar nicht zu Nathan gekommen, und ohne den Tempelherrn wäre Recha gestorben. Gleichfalls ist auch Daja essenziell als Rechas Hilfe im Haus, aber auch als Ratgeberin und Unterstützung. Diese Nebenfiguren unterstützen die Handlung, ohne einen grossen Einfluss auf die Botschaft der Geschichte zu haben.
In der Literatur kommen Nebenfiguren überall vor, als Füllung für die Handlung oder als Unterstützung für die Hauptcharaktere. Ein paar Beispiele dafür sind Lord Henry Wotton aus «The Picture of Dorian Gray» und Horatio aus «Hamlet», zwei Bücher, die ich vor kurzem gelesen habe. Den ersten halte ich für den alleinigen Auslöser der Handlung, und er kommt durchgehend in wichtigen Situationen vor. Jedoch ändert er sich nicht im Laufe der Geschichte, auch wenn die Handlung einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren umfasst. Horatio ist Hamlets enger Begleiter und Kollege und stützt ihn bis zu seinem Tod. Danach erfüllt er Hamlets letzten Wunsch und ist der Grund dafür, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Beide sind besonders wichtig auf inhaltlicher Ebene.
Für mich liegt die Wichtigkeit dieser Nebencharaktere woanders. In der Realität betrachten wir die Welt durch die Augen eines Hauptcharakters. Unser Name steht auf der ersten Seite des Buchs und die Handlung dreht sich um uns. Auch wenn wir keine besonders egozentrische Weltsicht haben, wissen wir nicht, wie das Leben aus einer anderen Perspektive aussieht. Nicht alle Figuren, ihre Denkweisen und Perspektiven zu erklären, gibt ein Gefühl der Realität beim Lesen. Menschen werden interessiert, wenn sie etwas nicht verstehen. Ein gewisser Grad an Geheimnis macht ein Buch spannend und realistisch. Die einfachste Art, dieses Gefühl wiederzugeben, ist durch die Figuren, da wir uns am meisten mit den Figuren identifizieren können. Beide Bücher, die ich erwähnt habe, sind sehr figurenfokussiert, mit Dorian Gray und Hamlet, die die Handlung eigenhändig vorwärts bringen. Obwohl beide Handlungen weit entfernt von meinem Leben scheinen, kamen mir beide Bücher sehr realistisch vor. Natürlich dank des Erzählstils, aber auch dieser Erste-Person-Perspektive, die ich auch erlebe.
Ich bin wahrscheinlich für alle Personen, die ich jemals getroffen habe, ein Nebencharakter in ihrem Leben. Für die meisten lebe ich in ihren Erinnerungen und werde anhand meines Aussehens und meiner Sprechweise beschrieben und beurteilt. Für einen kleinen Teil davon, der mich jeden Tag sieht, unterstütze ich ihre Handlung wie Daja für Recha. Meine Kollegen kennen die Gedanken, die in meinem Kopf von der Erzählinstanz erzählt werden, nicht. Gleichfalls werde ich die meisten nie so gut kennen, dass ich verstehe, wie sie das Leben sehen und was der Autor bei ihnen geschrieben hat. Abgesehen davon, dass es inhaltlich praktisch ist, mehrere Figuren zu haben, wird diese Realität nur durch Nebenfiguren erreicht. Auf eine Art sind Nebenfiguren genauso wichtig wie Hauptcharaktere, auch wenn das nicht schwarz auf weiss geschrieben ist.
